Predigt zum HanseSail-Gottesdienst 2019

Ich lebe auch an der Ostsee. Nur etwas weiter entfernt. In Lettland.
Ich habe die Sommer meiner Kindheit in einem kleinen Fischerdorf verbracht, welches sich in der sogenannten "verbotenen Zone" in der Nähe der sowjetischen Grenze befand, einem Bereich, in den man nur mit Sondergenehmigungen hineingelassen wurde. Wir hatten zum Glück Verwandte die dort lebten, und so bekamen wir die benötigten Genehmigungen von den sowjetischen Behörden.
Ich selbst bin ein Kriegsenkel, ich habe von meiner Familie schon in der Kindheit das Gefühl übermittelt bekommen, daß das Meer der Weg in die Freiheit, in den Westen ist, dieser Weg, den Hunderttausende Letten am Ende des 2. Weltkrieges gegangen sind, um den Repressionen, der Verschickung nach Sibirien, dem Tod und Elend der Sowjetbesatzung zu entgehen.

Das Meer war für mich der erste reale Ausdruck für Begriffe wie Unendlichkeit, Freiheit, Rettung, Frieden, Sicherheit, Zuflucht.
Es verkörperte die Botschaft: es existiert eine andere Welt, ein anderes Leben, wo du das sein darfst was du bist, wo du sagen darfst was du denkst, in der du frei und lebendig sein darfst, egal wie du bist.
Durch das Leben in einem totalitären Regime wurde das Meer unvermittelt zu einer Metapher für Christus: Es kann dich zu einem neuen Leben und Freiheit führen.
Ich weiß jetzt, daß, als ich als Kind in die Weiten Fernen des Meeres blickte, ich in mir die Sehnsucht nach der großen Realität, der großen Quelle, dem Urgrund alles Seins fühlte.

Jesus sagt: "Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt".
Auch wir haben in diesen Tagen Salz auf der Haut und auf den Lippen, etwas Salzgeschmack im Mund, wir werden von salzigem Wind umblasen.
Aber stellen wir uns mal vor- Gott, nicht als "den allmächtigen Gott", nicht als den "lieben Gott", sondern als Salz, als Salzwasser, welches auf den Lippen brennt, als etwas was allem Geschmack, Sinn und Bedeutung verleiht, aber auch als etwas, was gleichzeitig unsere unbewussten Verletzungen und Wunden brennen läßt, etwas was durch alle unsere Pflaster und oberflächlichen Versuche zu besänftigen dringt, bis zur Wurzel hindurch, und aufweist, was in uns nach Heilung und Umsorgung verlangt.
Wir sehnen uns nach der Weite des Meeres, nach Wind und Erfrischung, nach der Unversehrtheit und Wildheit des Meeres. Unsere Sehnsucht ist oft darauf gerichtet, an einen Platz zu gelangen, wo nicht alles zivilisiert und dem Touristen angepasst ist, nicht hübsch versehen mit Info- Brettern, sondern dem Menschen unangepasst und ungebändigt ist. Wir träumen davon, genau dort Energie für das Leben zu schöpfen, auf Schwierigkeiten zu treffen, etwas Wahrhaftiges zu erleben. Vielleicht ist das der Wunsch nach einem Wilden Gott? Nach dem, der dem Leben Geschmack gibt und auf den Lippen brennt?

​Der Glaube besteht zu sehr aus Vorhersehbarem und Bekanntem, aus abgerundeten Sätzen und abgeschlossenen Gedanken. Der Glaube sollte kein Gebilde des Verstandes sein. Vielleicht sollten wir es aus dem Bereich des Verstandes herausholen. Der Glaube sitzt seit zu langer Zeit in einem Zimmer mit elektrischem Licht und Klimaanlage. Vielleicht ist er auch deshalb oft so verkümmert und schwächlich.
Ich denke oft an das Christentum der Zukunft- welches weniger im Verstand und mehr im Herzen wohnen wird, gestützt von Empfindungen, der Natur und der Körperlichkeit. ​Es wird weniger gezähmt und angepasst sein, nicht von hübschen gepflegten Fußwegen durchzogen, sondern eher wild, natürlich, echt sein.
Wie das Salz, welches das Leben sinnvoll und lebenswert macht. Wie das Salz, welches Schmerzen dort aufweist, wo diese verleugnet und verborgen werden.
Wie das Licht, welches beruhigt und einem hilft, sich in jeder Dunkelheit zurechtzufinden.
Wie das Licht, welches blendet, wachrüttelt, und zu Existenz und Abenteuern herausfordert, das Licht, das dazu aufruft, diesen unbekannten, ungezähmten, nicht vorhersehbaren Weg zu gehen, der vor jedem von uns liegt,
​Jeder Mensch ist für den anderen ein solches Salz, ein solches Licht. Ein Seelenfreund. Jeder. So ist die Vision Jesu darüber, wie die Welt sein kann. Dieses ist die Vision Jesu über das Reich Gottes- nicht über ein Leben nach dem Tod, sondern dem Leben hier im Diesseits- sinnvoll, vollwertig, schön, glücklich - im Jetzt.
An wen ​richten sich denn sonst diese Jesu Worte: "Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt"?​
Paul Smith, ein Bahnbrecher des Christentums der Zukunft betont, daß sowohl Matthäus als auch Lukas in ihrem Evangelien hervorheben, daß, beim Erklingen dieser Worte, eine große Menschenmenge und eine große Jüngerzahl anwesend war. Diese Worte wurden nicht nur von einigen wenigen Jüngern Jesu, nämlich seinen engsten Mitläufern gehört, sondern von einer großen Zahl Jünger, möglicherweise mehreren Hundert. Und außer ihnen hörten sie eine noch größere Ansammlung - mehrere Tausend Menschen.
​Ich bezweifle, daß es um Jesu herum eine abgegrenzte Fan-Zone gab, die die einigen Hundert Jünger von der tausend-köpfigen Menschenmenge abgrenzte. Als Jesus sprach, richtete Er sich an alle. Er sagte nicht, was jetzt folgt, bezieht sich nur auf meine Jünger, die in der ersten Reihe sitzen.
Er sagte das auch nicht vor dem Spruch "Ihr seid das Salz der Erde".

​Wir sind daran gewöhnt zu denken, daß diese Worte spezifisch an die Jünger Jesu gerichtet waren. ​Das ist nicht so.
Es wird ja allgemein angenommen, daß genau die Christen dieses Salz der Erde sind​, daß es im Besonderen sie sind, die die Aufgabe haben, den Geschmack der Realität zu schaffen, und Licht in diese Welt bringen. Das ist nicht so.
Jesus trennte seine Jünger nicht von der allgemeinen Menschenmenge ab. Nicht einmal von jenen, die eingetroffen waren aus den Provinzen von [ Tira und Sidon]​, welche grosse Zentren des Kanaanischen Heidentums waren, Städte, die vor griechischen und römischen Gottheiten nur so wimmelten und in denen barbarische Rituale in Tempeln, die diesen Gottheiten gewidmet waren, vollzogen wurden. Ungeachtet dessen sagte Jesus zu allen diesen Menschen: "Ihr seid das Salz der Erde".
Die Jünger Jesu waren sich noch nicht im Klaren darüber, wer Jesus denn eigentlich ist, sie waren nicht einmal getauft. Sie hatten keine Ahnung von den Grund-Doktrinen des christlichen Glaubens sowie von den Glaubensbekenntnissen, die erst Jahrhunderte später formuliert werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie einfach Leute, die Jesus folgten, gar nicht so sehr unterschiedlich von den anderen anwesenden Zuhörern.

Es ist nicht leicht sich vorzustellen, als heutiger Christ, Pastor oder Prediger der christlichen Kirche, eine Menschenmenge von Tausenden Anwesenden, unter denen nicht ein einziger Christ ist, mit den Worten anzusprechen: "Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt".
Menschen, unter denen Atheisten und Mitglieder anderer Glaubensrichtungen sind, einige vielleicht an Jesus interessiert, aber auf eine verdächtige, esoterische Weise, andere Agnostiker und hartgesottene Materialisten, und all denen würde gesagt werden: "Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt". Ziemlich unwahrscheinlich.
Denn wir sind ja der Ansicht, daß nur die Christen das Licht der Welt sind, und selbst von denen wahrscheinlich doch nicht alle. Wenn schon so etwas verkündet wird, müsste zunächst sorgfältig unterschieden werden, wer nun das Salz ist und wer nicht.
Jesus jedoch tut das nicht.

Er sagte diese Worte (und nicht nur einmal! ) zu allen, die anwesend waren. Er sagte sie zu Menschen unterschiedlicher, religiöser, politischer und ethischer ​Überzeugungen, von denen viele zu Jesus einfach als zu dem nächsten Wunderheiler gekommen waren, nachdem sie über dessen Wirken allerlei Wundersames gehört hatten. Zu Menschen, die einem anderen Glauben angehörten, einem sehr falschen zudem! Zu Menschen, die dem Bodensatz der Gesellschaft angehörten, Menschen von fragwürdiger Moral.
Die Menschenmenge war voll von solchen, die nach den damaligen religiösen Regeln von Gott geächtet waren, inakzeptable, abtrünnige, von Kirche und Gesellschaft verstoßene Menschen. An diese Menschen richtete sich Jesus und sagte: " Ihr seid das Salz der Erde".
​Ist das überhaupt vorstellbar? Was würde mit unserem christlichen Glauben geschehen, wenn wir dieses tatsächlich bis zu den Tiefen unseres Herzens begreifen würden? ​
Dann würde jegliches "wir und die anderen", alle Privilegien, Überlegenheitsgefühle zusammenbrechen, jegliche Möglichkeiten, auf andere von oben herab zu blicken, verschwinden - sei der Grund religiöse Unterschiedlichkeiten, Lebensweise, oder irgendetwas anderes. Denn jeder ist das Salz der Erde. Und kein Salzkorn ist besser, heiliger, geliebter, wertvoller als ein anderes. Jeder. Es gibt keine Ausnahme.
Die einzige Forderung ist, dieses Salz nicht in dem eigenen Salzbehälter zu verstecken. "Damit euer Salz nicht nutzlos ist"- spricht Er. Jesus fordert uns auf, uns dessen bewußt zu werden, was wir, ein jeder, bereits sind.

​Gott lebt in jedem: im Hinduisten, im Christen, im Buddhisten, im Atheisten, im Straight, im Gay, im Guten, im Schlechten, im Bösen.
Gott ist wie Licht und wie Salz in jedem von uns. Immer enthalten in uns. Das ist uns nie verloren gegangen und wird uns nie verloren gehen. ​Wir müssen es uns nicht erringen. Wir können es nicht verdienen. Und wir können es auch nicht verlieren, denn das ist Gottes Teil in uns, Gottes Mitte in uns.
Ein Teil Gottes in uns, welches von Gott nie verlassen wird, denn: Er kann Sich nicht Selbst verlassen.
Es ist nur schwer für uns, das zu glauben.
​Zu glauben, daß der göttliche Strom in uns lebt hinter allen unseren inneren Verstrickungen. In uns ist Gott, jedoch so klein, als wäre er noch in Windeln gewickelt.
Die Psychologie benutzt den Begriff der Projektion. Das, was wir in uns selbst nicht annehmen, ausstehen oder ertragen können, das projizieren wir auf andere.​ Deshalb sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn uns Eigenschaften bei anderen sehr missfallen oder gar ärgern, denn es ist möglich, daß es sich dabei um Eigenschaften handelt, welche wir in uns selber nicht annehmen können.
Könnte es jedoch möglich sein, daß wir nicht nur das unerträglich Schlechte in uns auf andere projizieren, sondern auch das unerträglich Gute? ​Vielleicht erscheint uns deshalb Jesus allein so göttlich, so heilig, weil wir noch nicht in der Lage sind, uns unsere eigene göttliche Natur, die vergraben liegt unter Verstrickungen unseres Ego, bewusst zu machen?
Wir sind noch nicht dazu fähig, dieses bewusst wahrzunehmen, deshalb sehen wir das nur in Jesus, auf sehr, sehr hervorgehobene Weise.
In jedem Menschen ist Christus. "Christus ist ein anderes Wort für Alles was ist", so sagt der Franziskaner Richard Rohr.
Das Meer, der Wind und die Sonne helfen uns sehr, Gott in uns selbst zu erkennen. Wenn wir davon umgeben sind, ahnen wir, daß wir aus dem Selben gemacht sind. Das Wasser, welches im Meer ist, ist auch in uns. Der Wind, der außerhalb von uns bläst, der ist auch als Atem in uns. Und von uns strahlt, wenn auch nicht so stark, Wärme, wie von der Sonne.

​Und wir ahnen, daß wir dazugehören. Nichts ist vollendet. Nichts ist fertig. Gott tut seine Arbeit. Wir sind ein Teil davon. Das Leben geschieht. Gott atmet und wir atmen. Was auch immer geschehen mag, Freude oder Kummer, Trauer oder Lachen, ob wir gesund sind oder krank, wie auch immer die Welle ist, auf der unser Leben reitet, das Meer bleibt unverändert, keine Welle kann es wegschwemmen. So gehören auch wir zu etwas Beständigem, Unerschöpflichen, nicht Endendem.
Und dieses Gefühl ist nicht schlecht. Dieses Gefühl ist gar nicht schlecht.

(Linards Rozentāls)



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